Begegnung mit einer Geschichte

Ich bin auf dem Nachhauseweg, als ein Mädchen neben mich tritt und sich meinem schnellen Schritt anpasst. Sie kommt mir bekannt, nahezu vertraut vor und es stört mich erstaunlicherweise nicht, dass sie mich, ohne zu fragen, begleitet. Verstohlen betrachte ich sie aus dem Augenwinkel. Sie ist kleiner als ich, ein bisschen nur, und ihre Haare bewegten sich energisch bei jedem Schritt. Hin und her, hin und her. Sie reichen bis über ihre Schulterblätter. Ich hätte gerne solche Haare gehabt. Lang und voll, nicht glatt aber auch nicht übermäßig gelockt. Für meinen Geschmack genau richtig. Sie trägt etwas, das nach einer Schuluniform aussieht: weiße Kniestrümpfe, einen gemusterten Faltenrock und einen dunkelgrünen Blazer, unter dem eine Bluse und eine gestreifte Krawatte hervorlugten. Ein untypischer Anblick für das kleine, bayerische Dorf, in dem ich lebe.
Ich biege in meine Straße ein und das Mädchen folgt mir schweigend.
Ich schätze sie auf vierzehn oder fünfzehn Jahre, heutzutage kann man sich bei den Jugendlichen nie sicher sein. Bereits Grundschülerinnen gehen voll geschminkt und zurechtgemacht in die Schule und wirken durch ihre Maskerade um Jahre gealtert. Ein Blick an meine Seite zeigt mir, dass das Mädchen ungeschminkt zu sein scheint. Ich erkenne ein paar Sommersprossen, die sich um eine Stupsnase tummeln. Sie sieht hübsch aus, ganz natürlich. Etwas unscheinbar vielleicht. Doch wer bin ich zu urteilen? Mit fast Mitte 30 habe ich gefühlt noch nicht meinen richtigen Stil gefunden. Ich suche nach Ausgefallenem und möchte auf keinen Fall auffallen. Zum Schminken fehlt mir meist die Zeit, vor allem wenn ich, wie heute, frühmorgens meine Tochter zur Krippe bringe. Zähneputzen, Katzenwäsche und einmal schnell durch die Haare kämmen, das muss reichen. Und einen Zopf für den Fall, dass die Haare nicht mehr frisch gewaschen aussehen. Heute trage ich einen Dutt, aber eher weil mir die einzelnen Strähnen sonst kraftlos in Gesicht hängen. Wie gerne hätte ich solche Haare wie das Mädchen neben mir.
Inzwischen habe ich die Einfahrt meines Zuhauses erreicht und halte an. Das Mädchen ebenfalls. Sie sieht mich an, offen, ein bisschen herausfordernd. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre geschwungenen Lippen.

„Wollen wir uns nicht setzen?“, fragt sie mich und deutet auf die schmale Holzbank unterhalb des Briefkastens. Erst letzten Herbst habe ich die Bank abgeschliffen und neu gestrichen, ihr fehlt nur noch ein passender Platz.
„Gerne“, antworte ich, verwundert über meine Reaktion. Ich habe mich auf eine Tasse Tee und ein Buch gefreut, ein bisschen Ruhe, um mich anschließend den unzähligen Projekten zu widmen, die auf meiner ToDo-Liste stehen. Seit ich die Vormittage für mich habe, hat mich wieder die Lust am Schreiben gepackt. Die Muße war zurückgekehrt und eines Morgens habe ich mich einfach an meinen Laptop gesetzt und drauf los geschrieben. Die getippten Zeilen lassen mich seitdem nicht los, sie begleiten mich…
Ah, jetzt verstehe ich.

„Wie heißt du denn eigentlich? Ich dachte an Sara Louise, aber das passt irgendwie nicht zu dir, das fühlt sich nicht richtig an“, sage ich leise, etwas unsicher und schaue ihr ins Gesicht. Sie erwidert meinen Blick aus ihren leuchtenden grünen Augen.
„Nein, der Name passt wirklich nicht zu mir. Genauso wenig wie Caterine, oder was meinst du? Auch wenn das der Name ist, der mich am längsten begleitet.“

Ich schüttel den Kopf und runzel die Stirn, um sie im nächsten Moment wieder zu entspannen. Das gibt sonst Falten.
„Ich kenne dich seit… sind es wirklich schon 22 Jahre? … vielleicht sogar mehr. Die Namen der anderen beiden sind richtig, doch bei dir bin ich mir unsicher. Es ist so ein Gefühl, als wüsste ich noch nicht genau, wer du eigentlich bist. Und das, obwohl wir uns schon so unglaublich viele Jahre kennen.“

„Kaum zu fassen, oder? Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so lange begleiten werde. Zwischendurch dachte ich, wir hätten den Kontakt zueinander verloren. Das fand ich schade und etwas traurig. Wir haben uns einfach aus den Augen verloren, aber vergessen habe ich dich nicht.“ Sie lächelt etwas schwermütig. „Schön, dass du mich wieder gefunden hast.“
Das schlechte Gewissen plagt mich, als ich sie so neben mir sitzen sehe. Ich möchte sie gerne in den Arm nehmen, danke sagen, dass sie immer noch da ist und sich mit mir abgibt, obwohl ich sie vernachlässigt habe. Doch ich rühre mich nicht. Ich weiß nicht, wie die Regeln sind. Gibt es Regeln? Was ist möglich? Zaghaft strecke ich meine Hand aus und berühre die ihre leicht mit den Fingern. Ihre Haut fühlt sich kühl an, samtig und zugleich glatt … und sonderbar vertraut… wie Papier. Ich schrecke zurück.
„Es tut mir leid“, sage ich leise und weiß nicht, ob ich die Berührung meine oder die Tatsache, dass ich sie so viele Jahre kaum beachtet habe. Oder beides.
„Schon ok“, antwortet sie und lächelt aufmunternd. „Jetzt sind wir ja hier, wir beide. Wir schaffen das schon.“
So schnell lassen sich meine Zweifel nicht beiseite wischen. Ich will es gerne schaffen. Davon träume ich, seit ich etwa in ihrem Alter war. Damals dachte ich, ich könne alles erreichen. Besser noch, ich machte mir keine Gedanken darüber, was ich da tat. Ich tat es einfach. Weil ich es liebte. Weil ich es tun musste. Weil es mich nicht losließ.
Was war dann passiert?

„Ich glaube, mir ist vor lauter Erwachsen werden, Erwachsen sein und dem ganzen Alltag meine Fantasie abhandengekommen.“ Meine Stimme zittert, als ich diesen Satz ausspreche.

„Wenn dir deine Fantasie abhandengekommen ist, warum sitze ich dann hier?“, fragt die sanfte Stimme neben mir. Ich vermeide es sie anzuschauen und lasse meinen Blick über das grüne Feld und die entfernten Bäume schweifen. Als Kind floss mir die Fantasie nur so aus den Fingern. Egal ob ich schrieb oder malte, ich machte mir keine Gedanken darüber. Vor allem nicht über das wofür, den großen Sinn und Zweck hinter dem Ganzen. Ich malte, weil ich malen wollte. Ich schrieb, weil die Geschichten geschrieben werden wollten. Und wenn ich etwas probiert hatte, das nicht funktionierte, dann war das in Ordnung. Ich hatte es zumindest probiert. Heute stehe ich mir selbst im Weg. Mit meinen Zweifeln. Mit meinem Perfektionismus. Ich blockiere mich selbst so sehr, dass ich gar nicht erst anfange. Zeit ist kostbar geworden und nicht mehr im gleichen Übermaß vorhanden, wie zu Schulzeiten. Was Quatsch ist, denn ich habe heute genauso viel Zeit zur Verfügung, wie damals. 365 oder wie heuer, 366 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Schätzungsweise gehen nach wie vor acht Stunden davon für den Erholungsschlaf drauf, manchmal mehr. Oft weniger. Statt in die Schule zu gehen bin ich arbeiten und statt im Elternhaus zu wohnen habe ich meine eigene kleine Familie. Mama, Papa, Tochter. Die gleiche Zeit, anders ausgefüllt. Hausarbeit statt Hausaufgaben. Ins-Bett-Bringen, statt ins-Bett-gebracht werden.
Während ich mich damals zu jeder Tages- und Nachtzeit hinsetzen und darauf los schreiben konnte, brauche ich heute die perfekten Bedingungen. Ein aufgeräumter Schreibtisch – mein damaliges Ich hätte mich dafür ausgelacht, einen passenden Gemütszustand und vor allem Ruhe. Brauche ich das, oder versuche ich mich wieder selbst zu sabotieren? Mich vom Schreiben abzuhalten, um mich vor Frustration zu schützen.
„Du tust es schon wieder.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken. „Was tue ich schon wieder?“
„Du zweifelst.“

Ertappt. Ich seufze resigniert.

„Wie komme ich da raus?“, frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Wie soll sie mir schon helfen?
„Wir schaffen das schon.“, sagt sie wieder mit fester Stimme, so wie vorher.

„Ich weiß noch nicht einmal, wie du heißt.“, entschuldige ich mich und das schlechte Gewissen kriecht wieder in mir hoch. „Wie soll ich deine Geschichte erzählen, wenn ich deinen Namen nicht einmal kenne?“
„Brauche ich denn einen Namen?“, fragt sie mit kindlicher Unschuld in der Stimme.
„Klar, jeder hat einen Namen. Mensch, Tier, Kuscheltiere… manche Autos haben sogar Namen und werden darauf getauft. Man muss doch wissen, wie jemand heißt…“
„Aber der Name macht doch nicht aus, wer du bist“, unterbricht mich das Mädchen. „Du bist Du, und wenn dich jemand plötzlich Olivia statt Sabine nennt bist du immer noch du, daran ändert sich nichts. Das ändert nichts an deiner Persönlichkeit und auch nichts an deiner Geschichte.“
Das bringt mich zum Nachdenken. So ungern ich es zugebe, sie hat Recht. Auch wenn man sich über seinen Namen definiert, ohne ihn bin ich immer noch ich. Und ich habe mehr Bezeichnungen neben meinem Namen, den mir meine Eltern gegeben haben. Ich bin Mama, Partnerin, Schatz, Tochter, Enkelin, Freundin, auch Exfreundin, Exfrau und Arbeitnehmerin. Zu gerne würde ich der Liste die Bezeichnung Autorin hinzufügen. Diese Gedanken spreche ich laut aus.
„Sehr gut. Und weißt du was? Ich bin auch eine Tochter, eine Enkelin, nicht immer eine gute Freundin, aber ich versuche es. Manchmal bin ich ein Angsthase…“
„Warte mal“, rufe ich und stehe hektisch auf.
„Was ist passiert?“
„Nichts“, sage ich, „aber ich brauche Stift und Papier. Ich muss das aufschreiben, damit ich es nicht wieder vergesse. Tochter, Enkelin, Freundin, aber nicht immer die beste, manchmal…“, murmle ich beschwörend vor mich hin, um ja kein Detail zu verlieren.
Nachdenklich betrachtet das Mädchen mich und legt dabei den Kopf schief. Nun wirft ihre Stirn Falten, eine steile Denkfalte bildet sich zwischen den gebogenen Augenbrauen. Sie verschränkt ihre Arme vor dem Oberkörper, während sie mich fortwährend anschaut. Mir wird unbehaglich zumute. Ich habe das Bedürfnis wegzuschauen, kann es aber nicht, und ich rutsche unruhig auf der Bank hin und her.
„Du bist komisch“, sagt sie schließlich. Ich atme aus.
„Komisch…“
„Ja, komisch. Du versuchst mich durch Kategorien, Begriffe und Daten zu fassen zu bekommen. Du versuchst jedes Detail festzuhalten, damit du eine Vorstellung von mir bekommst, dabei lässt du keinen Spielraum.“
„Spielraum wofür? Ich schreibe, das braucht einen Plan, eine Struktur…“
„… es braucht eine Geschichte. Und eine Geschichte will leben, sie will sich entfalten, sie will entdeckt werden.“
Mir brummt ein wenig der Schädel von unserem Gespräch. Es entwickelt sich in eine andere, anstrengendere Richtung, als gedacht. Ich hatte einen leichten, lockeren Austausch erwartet in dem sich zwei alte Bekannte auf den neuesten Stand bringen und merken, dass sie sich trotz der Zwischenzeit unterhalten können, als wäre nichts gewesen. Auf diese Diskussion mit einer Fünfzehnjährigen bin ich nicht eingestellt. Etwas in mir sträubt sich dagegen, ihr zuzustimmen. Doch ich weiß, dass sie Recht hat. Wohin soll das mit uns führen? Auf jeden Fall macht sie keinerlei Anstalten zu gehen, sich zu entschuldigen, dass sie noch etwas vor hat oder irgendwo sein muss. Sie sitzt einfach entspannt und erwartungsvoll neben mir, wackelt mit den Füßen, die in schwarzen Lackschuhen stecken, und wirft mir hin und wieder einen verstohlenen Blick zu.
„Und jetzt?“, frage ich ins Nichts hinein und denke mir, dass es eigentlich anders herum sein sollte. Dass sie mich um Rat fragt und sagt, was jetzt, und nicht ich.
„Lass uns eine Geschichte erzählen!“, antwortet sie, steht auf und streckt mir ihre Hand hin. Einen Moment zögere ich, bevor ich ihre papiergleiche Hand ergreife.

Eine Geschichte von SGW, all rights reserved, 2024

6 Replies to “Begegnung mit einer Geschichte”

  1. Liebe Bi(e)ne 🙂
    Ich kann mich Judith nur anschließen: „Bitte mehr davon“ !
    Vielleicht kann ich eines Tages dann wirklich ein „richtiges“ Buch in den Händen halten mit Geschichten von „SGW“ 🙂
    Es freut mich wirklich sehr, dass in deinem ausgefüllten Alltag Platz ist, deine Gedanken in so schöne Worte zu fassen.
    Und wenn du mal einen Verleger brauchst: Ich hab schon manche Dinge verlegt – warum nicht auch ein Buch von dir?
    Viele liebe Grüße
    Plapp

    1. Ob „Fliesenlegen“ in der Hinsicht als Erfahrung zählt? Ich baue darauf, was du mir mit 12 gesagt hast: „Wenn du dein Buch fertig schreibst und es mir als kritischem Leser standhält verlege ich es selbst für dich.“ 😉 Das habe ich nie vergessen.
      Ich hoffe selbst auch auf viele weitere dieser inspirierenden „Begegnungen“ 🙂
      Liebe Grüße

  2. Liebe Sabine,
    deine kurze Geschichte hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Bitte mehr davon.
    So wie es sich anhört geht es dir gut. Wirklich schade das du nicht mehr Teil unseres Teams bist. Hoffentlich hast du dich gut in deine neue Stelle eingefunden und es macht dir Spaß.
    Liebe Grüße, Judith

    1. Hi Olivia… äh Sabine,
      wow eine fesselnde Geschichte ist das. So schön beschrieben, als wäre ich mit auf der Bank gesessen. Lass bitte wieder mehr deiner Fantasie freien Lauf .
      Passend zu deinem Blog: Glück ist … das Zusammentreffen von Fantasie und Wirklichkeit … ist dir gelungen .
      Ganz liebe Grüße
      Chrissi

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