Begegnung mit einer Geschichte (2)

„Du hast mich erschreckt!“ Ich blickte von dem Dokument auf, in dem ich vertieft gewesen war. Das Herz schlug spürbar schnell in meiner Brust. Einen Moment brauchte ich, um mich wieder in der Realität zurechtzufinden. Das passierte häufig, wenn ich intensiv an einer Geschichte arbeitete.


„Entschuldige!“ Die Stimme hatte einen tiefen, warmen Klang. Ich hatte sie mir anders vorgestellt. Hatte ich sie mir überhaupt ausgemalt? Sie klang vertraut und doch ungewohnt.
„Schon ok. Ich habe sowieso eine kleine Pause gebraucht“, antwortete ich mit einem Lächeln und drückte schnell auf Speichern. „Was machst du hier?“ Die passendere Frage wäre gewesen: Wie bist du unbemerkt in mein Arbeitszimmer gekommen. Ich verkniff sie mir. Langsam gewöhnte ich mich daran, dass immer wieder Menschen neben mir auftauchten, aus dem Nichts, und ebenso plötzlich verschwanden. Es waren keine Unbekannten, selbst wenn es manchmal länger dauerte, bis ich sie einordnen konnte. Heute fiel es mir nicht schwer. Schließlich hatte ich mich gerade intensiv mit eben der Person beschäftigt, die nun neben mir auf der Tischkante saß und mich aus dunkelbraunen Augen ansah. Die dunklen Haare waren leicht verstrubbelt. Er trug Jeans und einen blauen Cardigan über einem grauen T-Shirt. Lässig saß er da und sah mir offen ins Gesicht.
„Ich hatte das Bedürfnis nach dir zu sehen“, antwortete er und grinste. „Wollte sehen, wie es bei dir läuft.“


„Sehr umsichtig von dir, danke“, sagte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. „Es geht voran. Langsam, aber stetig. An manchen Tagen besser als an anderen. Ich habe mir eine Seite pro Tag zum Ziel gesetzt. Manchmal schaffe ich es nicht, manchmal werden es dafür sechs auf einmal. Aktuell bin ich bei 40 Seiten und das zweite Kapitel ist fast fertig.“ Ich erzählte es stolz, denn ich war zufrieden mit meinem Fortschritt. Nachdem ich jahrelang kaum geschrieben hatte, es einfach nicht konnte, war es ein berauschendes Gefühl. Es erfüllte mich, es tat mir gut. Es ließ mich nicht los. Das hatte es nie. „Das zweite Kapitel ist dein Kapitel“, fügte ich hinzu. „Es zu schreiben ist mir anfangs sehr schwergefallen. Du warst nicht greifbar für mich. Ich dachte erst, das liegt an mir. Nun glaube ich, das gehört zu dir und dem Schutzwall, den du um dich errichtet hast.“


Er lächelte noch, aber in seinen Augen und Mundwinkeln konnte ich Schmerz und Trauer erkennen. Seine Hände hatten sich an der Tischkante festgekrallt, sodass die Knöchel weiß hervortraten.
„Tut mir leid“, sagte ich vorsichtig und legte eine Hand auf seine.
„Schon gut.“ Er drückte meine Hand kurz und ließ dann wieder los. „Das alles gehört zu mir und meiner Geschichte. Ich teile es nicht gerne, aber du hast mir Zeit gelassen. Das schätze ich sehr.“


„Tut mir auch leid, dass ich mir nicht früher schon die Mühe gemacht habe, dich besser kennenzulernen. Ich hatte keine Ahnung, was du durchgemacht hast.“ Ich wünschte, ich hätte ihm etwas von seinem Leid und Schmerz abnehmen können, von dem Druck, der auf seinen Schultern lastete und zu viel war für einen jungen Mann in seinem Alter. Ich hätte ihm eine neue, eine andere Hintergrundgeschichte schreiben können, doch das wäre nicht mehr er gewesen. Niemand kann seine vergangene Lebensgeschichte einfach umschreiben, das Leid herausstreichen und durch Sonnenschein ersetzen. Manchmal versuchen wir es, doch die wahre Geschichte hat die Angewohnheit stets zum Vorschein zu kommen. Alles, was wir erlebt haben, gehört zu uns und macht uns zu den Persönlichkeiten, die wir heute sind. Was wir in der Hand haben, ist unsere Zukunft so zu schreiben, wie wir es möchten.


„Du hast dir Zeit genommen, dich überhaupt mit mir zu beschäftigen und hinter die Oberfläche zu schauen. Das machen nicht viele Menschen.“
„Ich freue mich über deinen Besuch.“ Gleichzeitig wünschte ich, wir hätten ein leichteres Gesprächsthema gefunden und wären nicht direkt tief in die düsteren Ecken der Geschichte eingestiegen. „Wie schaffen wir nun die Kurve zurück zu schöneren Themen? Wenn du schonmal da bist.“
„Glaub nicht, dass es mein letzter Besuch gewesen ist“, schmunzelte er. „Wir müssen schließlich schauen, dass du am Ball bleibst.“ Er stand auf und reckte sich. Er war bestimmt einen halben Kopf größer als ich, seine Schultern breit und die Arme muskulös. Immerhin das hatte ich mir so vorgestellt. Ich wandte meinen Blick ab und sah auf die letzten Zeilen, die ich geschrieben hatte, bevor er unvermittelt neben mir erschienen war. Sein Blick folgte dem meinen.
„Das wird noch spannend“, stellte er fest.
„Das ist es schon“, antwortete ich und es kribbelte in meinen Fingern. Ich wollte weiterschreiben.


„Ich… weiß nicht, ob ich fragen soll…“, er zögerte, als er sprach, und sah auf seine Füße, die in abgenutzten Sneakern steckten. Neugierig blickte ich auf und wartete. „Weißt du… Meinst du… Gibt es ein Happy End?“
Die Frage schien ihn sehr beschäftigt zu haben. Ich konnte ihn verstehen. Wer wollte nicht gerne wissen, ob am Ende alles gut ausging?
„Wir werden sehen.“ Mehr konnte ich ihm nicht sagen, denn ich wusste es selbst nicht. Alles war möglich. Ich liebte Geschichten mit Happy End, doch es lag nicht in meiner Hand. Ich ließ meinen Blick kurz aus dem Fenster schweifen. Regenwolken und Sonnenschein wechselten sich heute ab, blauer Himmel blitzte hier und da hervor. Alles war möglich. „Es wird…“, ich wollte gerne etwas zu seiner Beruhigung hinzufügen, doch als ich mich umdrehte, war er verschwunden.

4 Replies to “Begegnung mit einer Geschichte (2)”

  1. OOOh ja… dein Schreiben versteht es zu fesseln und Lust auf Mehr zu erzeugen.
    Ich bin sofort eingetaucht in die Erzählung und freue mich auf weitere Geschichten von dir. Habe auch gleich noch mal die erste Geschichte gelesen und freue mich sehr für dich und mit dir, dass deine Fantasie und deine Freude am Schreiben zurückgekehrt sind.

  2. OOOh ja… es wird noch spannend, so viel steht fest… der Prozess und erst recht das Ergebnis, auf das ich mich jetzt schon freue!
    Und auch ich schaue dir gerne regelmäßig über die Schulter, damit du am Ball bleibst.

    Ganz viele Herzensgrüße

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